MEXIKO
Das Friedhofsland Ein Aufschrei aus Mexiko. Juan Carlos Camaño*
Alle können ermordet werden. So einfach und so erschreckend ist das. Aus den Titelseiten der Zeitungen am Kiosk fliesst Blut, das mit einem nackten oder halbnackten Model etwas verwässert wird. «Wenn das so weitergeht, müssen wir in ein anderes Land», hört man einige Leute sagen, die glauben, der DF [Distrito Federal, Hauptstadt] sei noch nicht im Krieg. Obwohl es in den Aussenbezirken nicht an Leichen mangelt, eine über die andere gelegt, mit Legenden, die sagen, die Schlacht habe begonnen. Mexiko bleibt in einer tödlichen Falle eingekapselt. Auf seinen Böden schreiten Verbände von Polizei und Armee einher, gespalten in sich bekämpfende Seiten. Paramilitärs, Parapolizeien, organische und improvisierte Auftragskiller; Agenten – versteckte und offene– der CIA und der DEA; Elitekommandos, die von der Regierung von Felipe Calderón und von den «TodesAG» abhängen, beauftragt, MigrantInnen von einer Seite zur anderen zu befördern. Vergessen wir nicht; In den letzten zehn Jahren wurden – nach Zahlen in verschiedenen in- und ausländischen Medien – 60’000 Menschen «verschwunden», die meisten MexikanerInnen, viele andere aus Zentralamerika, die nie zu ihrem Ziel gelangten, in die USA, oder zurück, nach Hause, wenn sie unterwegs die Reue überkam. Rechnet man die Ermordeten und Verschwundenen der letzten drei Jahrzehnte zusammen, kommt man – ohne die als offizielle Verlautbarungen bekannten Zahlen zu sprengen – auf ungefähr 100’000 direkte Opfer eines nicht erklärten Bürgerkrieges in Mexiko. Ein Bürgerkrieg mit massiver Verwicklung und schwerer Verantwortung der USA. Die gibt es schon lange, mit dem Freihandelsvertrag NAFTA wurden sie vertieft: Machenschaften und Geschäfte, die, wie Tausende von mexikanischen ArbeiterInnen anklagten, nur ein Teil der ökonomischen und sozialen Grausamkeiten waren.
In diesem Sinn haben die USA mit der unschätzbaren Hilfe des Ex-Präsidenten Vicente Fox – einem Bajass von George W. Bush, der die kontinentale Freihandelszone ALCA nicht im Herzen der Gesamtregion verankern konnte – die Ausblutung eines Landes mit einer 110-Millionen-Bevölkerung beschleunigt. Das Einzige, was man nach Abschluss von NAFTA wachsen sieht, sind die Schattenwirtschaft und die grossen, verletzenden Armutszonen. Tatsächlich eine Brutstätte der Gewalt – in diesem Fall bis an die Zähne bewaffnet und von der Wildheit gezeichnet, die jeder Kampf um die Beute, also die totale Kontrolle des Marktes, mit sich bringt. Der Markt für Öl, für harte oder weiche Drogen und für Nischen für ausgewählte Geschäfte für erlesene Klassen. Im Friedhofsland kann man an jeder unvermuteten Ecke ins Gras der Niederlage beissen, genau so aber auch einen Schnaps in den Kaffeehäusern mit Terrassen im Pariser Stil nahe des Monuments von Benito Juárez schlürfen. So geht das, wie wenn das nichts miteinander zu tun hätte, bis zum Tag, der die Botschaft von einem nahen Opfer bringt.
sichern, dass vom Total der in den letzten drei Jahren ermordeten JournalistInnen 6 Prozent mit Repressalien des Drogenhandels zusammenhängen. Und dass im grössten Einzelsegment der Verbrechen – bei über 30 Prozent – die Streitkräfte involviert waren, die theoretisch der politischen Macht unterstehen. Die Armee und andere Kräfte von eindeutig parastaatlichem Zuschnitt, so bewaffnet wie die «institutionellen»: Gruppen mit dem Status «autonom». Wer beendet eine Schlachterei, die droht, sich als Lebensweise zu naturalisieren? Wenn es die fortschrittlichsten sozialen und politischen Kräfte von Mexiko und der Weltgesellschaft nicht schaffen, werden es die barbarischen Kriegstreiber, treu dem vom Pentagon skizzierten Diagramm des globalen Chaos, auf ihre Weise tun. Indem sie alles ausser ihren Geschäften zerstören. Zu denen gehört auch der Wiederaufbau in den Händen der gleichen Unternehmen, die heute den Tod anheizen. Zweifellos erleben wir ein weiteres Muster der einzigen Zukunft, die uns der aktuelle Teufelskreis der kapitalistischen Reproduktion und der imperialistischen Expansion bereithält. */alainet.org/active/40777, 10.9.10: México, País Cementerio. Der Autor ist Präsident der FELAP, der Lateinamerikanischen Föderation der JournalistInnen.
Wie es in jedem Land vorkommt, hat es jetzt auch in Mexiko MexikanerInnen, denen ihr eigenes Land mit seiner entsetzlichen Kette von Ermordeten und Verschwundenen zu weit weg ist. Die altbekannten sozialen Kontraste zwischen Reichen und Armen – in der städtischen Siedlung stets unverwechselbar – haben sich verschärft. Vielleicht kommt der Yankee-Bulldozer auf seine Rechnung: zu zeigen, dass Mexiko in der Kategorie «unlebbar» versinkt. Gescheitertes Land. Gescheiterter Staat. Das wird dann den USA eine direkte Intervention in einer zerstückelten Gesellschaft erlauben, brutaler als heute. Nicht mehr und nicht weniger steht in diesem scheinbaren Niemandsland auf dem Spiel. Es gibt Menschenrechts- und JournalistInnenorganisationen wie die FABERMEX, die Föderation der Vereinigungen der mexikanischen JournalistInnen, die ver-
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