EUROPAJOURNAL L I B E R A L -KO N S E RVATIV E R E F OR M E R

 Im Fokus: Italiens Banken und der Euro Italien – ein hoffnungsloser Fall? Was wäre, wenn Italien aus dem Euro austräte? Das italienische Parteiensystem Eurokrise 4.0, die Sozialversicherungssysteme und drohende Altersarmut

Foto: fotilia.com | Urheber: XtravaganT

Liberal-Konservative-Reformer.eu

J U LI 2017

Inhalt Geleitwort 3 Was wäre, wenn Italien aus dem Euro austräte? 4 Italien: Ein hoffnungsloser Fall?

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Viele Meinungen, wenig Harmonie Das italienische Parteiensystem

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Impressum 10 Im Schatten der italienischen Bankenkrise Eurokrise 4.0 und die Sozialversicherungssysteme

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Kurz notiert

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Web-Tipps 15 Aktuelles 16 Wussten Sie schon, dass…

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Leserfrage & Zitat des Monats

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Das Europäische Parlament in Straßburg.

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Foto: European Union 2015 - Source:EP / Dominique HOMMEL

Die LKR-Europaabgeordneten, v.l.n.r.: Joachim Starbatty, Bernd Lucke, Ulrike Trebesius, Bernd Kölmel, Hans-Olaf Henkel

in dieser Ausgabe beschäftigen wir uns einmal mit der derzeitigen Situation in Italien. Die immensen Schulden, der zu starke Euro, die zerklüftete Parteienlandschaft und die zunehmenden Flüchtlingszahlen ziehen das Land in einen Abwärtsstrudel. Mitten im Sommerloch und rechtzeitig vor der Bundestagswahl, erschien die jüngste Bertelsmann-Studie zum Thema Populismus. Demnach ist jeder dritte Deutsche populistisch oder stimmt populistischen Thesen zu. Populismus wird fälschlicherweise oft damit gleichgesetzt, komplizierte Sachverhalte auf einen einfachen Nenner herunterzubrechen. Konrad Adenauer hat man bisher noch nicht unterstellt, populis-

tisch gewesen zu sein, als er behauptete „Man muss Dinge auch so tief sehen, dass sie einfach werden.“ Wir werden Ihnen also weiterhin europäische Entscheidungen und Politik näherbringen und komplexe Sachverhalte nachvollziehbar darstellen. Hiermit verabschieden wir uns in die Sommerpause und wünschen Ihnen einen schönen, erholsamen August. Viele Spaß beim Lesen Ihre Redaktion

Liberal-Konservative Reformer

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GELEITWORT

Liebe Leser,

Was wäre, wenn Italien aus dem Euro austräte? Politiker und Unternehmen in Deutschland freuen sich derzeit über einen durch Nullzinsen entfachten Boom – die Eurokrise scheint vergessen. In Italien bewegt die Einheitswährung durchaus Gemüter, und das aus gutem Grund: Beinahe 10 Jahre nach Beginn der Finanz- und Eurokrise liegt Italiens Wirtschaft unter dem Vorkrisenniveau. Die mittelfristige Wachstumsprognose des Internationalen Währungsfonds ist düster. Mit der „Fünf-Sterne-Bewegung“ existiert eine politische Partei, die den Euroaustritt offen fordert und realistische Chancen auf eine Regierungsmehrheit hat. Grund genug für die Ökonomen Alberto Bagnai, Brigitte Granville und Christian Mongeau Ospina dem Euroaustritt Italiens eine wissenschaftliche Publikation zu widmen1. Das Papier ist eine akademische Neuheit: Zum ersten Mal wird der Austritt eines großen Mitgliedslandes simuliert. Die Ergebnisse sind ermutigend: die Ergebnisse der Modellrechnung prognostizieren eine V-förmige Entwicklung der italienischen Wirtschaft nach Austritt aus der Eurozone: Auf eine anfängliche Rezession folgt im dem dritten Jahr ein deutlich höheres BIP-Wachstum als im Status Quo. Der Aufsatz widerlegt die Behauptung, der Euro trage keine Mitverantwortung an der italienischen Malaise. Wiederholt hatte Italien vor Einführung des Euro Wettbewerbsfähigkeit durch Abwertungen gegenüber der D-Mark zurückgewonnen. Der starre Wechselkurs der Einheitswährung machte diese Methode unmöglich. Eine „one-size-fits-all“-Geldpolitik der EZB bescherte Italien über lange Zeiträume zu geringe Zinsen. Investoren ließen sich blenden und ermöglichten es dem italienischen Staat, große Schuldenberge anzuhäufen. Der Sozialstaat blähte sich auf. Die verlorene Wettbewerbsfähigkeit lässt die Wirtschaft seit vielen Jahren stagnieren und führte das Bankensystem durch

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Joachim Starbatty

Prof. Dr.

faule Kredite in eine schwere Krise. Politisch rumort es: Italien ist der Wackelkandidat der Eurozone. Ohne die massiven Anleihekäufe der EZB und das „Whatever-it-takes“ Mario Draghis im Juli 2012 wäre Italien kein Mitglied der Eurozone mehr. Möglicherweise wäre die Eurozone selbst bereits Geschichte, denn volkswirtschaftlich ist Italien kein Einzelfall: Der Euro ist verantwortlich für die ökonomische Divergenz der Mitgliedstaaten, wie die empirische akademische Literatur vielfach feststellt. Hilft Italien der Austritt aus der Währungsunion? Die Ergebnisse von Bagnai et al. bejahen diese Frage eindeutig. Das Wechselkursventil würde wieder arbeiten und aufgestaute Produktivitätseinbußen würden über eine Abwertung beseitigt. Interessant sind die quantitativen Dimensionen der Wechselkursberichtigung. Die Autoren schätzen eine Abwertung um 24 Prozent gegenüber Deutschland und um 12% gegenüber dem US-Dollar. Wodurch erklärt sich die relativ geringe Überbewertung des „italienischen Euro“ im Vergleich zum Dollar? Die Antwort liefert die Billiggeldpolitik der EZB, die den Wechselkurs seit 2013 von 1.30 USD/ Euro auf etwa 1.10 USD/EUR gedrückt hat. Diese Abwertung, auch wenn sie in einem überschaubaren Rahmen ausfällt, ist die Grundlage für eine positive Entwicklung der italienischen Wirtschaft außerhalb der Eurozone. Freilich ist der Euroausstieg alleine kein Allheilmittel: Bagnai et. sehen darin eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die wirtschaftliche Gesundung des Landes. Die Autoren raten deshalb zu einer staatlichen Anschubfinanzierung, die aufgrund mittelfristig geringerer relativer Schuldenlast finanzierbar sei. Italien ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone. Ein Austritt könnte das Ende der Währungsunion bedeuten und hätte weitreichende Implikationen für die EU als Ganzes. Interessant sind die Ergebnisse der Studie auch im Lichte unserer parlamentarischen Arbeit: Die LKR-Delegation wollte vor einiger Zeit von Mario Draghi wissen, wie hoch die EZB Wechselkursverzerrungen innerhalb der Eurozone einschätze. Die Antwort auf die parlamentarische Anfrage lautete: „Der Euro ist unumkehrbar“. Bagnai et. al zeigen durch ihre exakten Simulationen, dass diese Aussage den Interessen Italiens zuwider läuft. q

1 „Withdrawal of Italy from the euro area: Stochastic simulations of a structural macroeconometric model“, Alberto Bagnai, Brigitte Granville und Christian Mongeau Ospina (2017), Economic Modelling.

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Ulrike Trebesius

Italien: Ein hoffnungsloser Fall? Italien ist ein hoffnungsloser Fall. Das politische System ist dysfunktional und reformunfähig. Der Süden des Landes leidet unter Korruption und Arbeitslosigkeit und die Menschen wandern nach Norden. Die Mafia breitet sich inzwischen im Norden aus und zersetzt auch hier die gesellschaftliche Ordnung. Bei den Investitionen in Verkehrsinfrastruktur belegt Italien in der westlichen Welt den letzten Platz, sogar noch hinter Deutschland und Österreich. Rund 200.000 Migranten sollen sich aktuell in Italien aufhalten - 85.000 sind allein in diesem Jahr gekommen und täglich bringen „Flüchtlingsretter“ tausende mehr in Land. Die Verschuldung steigt schnell an und liegt mit 2,27 Billionen Euro und 133% BIP auf einem Niveau, das pro Kopf nur noch von Griechenland übertroffen wird. Überdies haben italienische Wirtschaftsteilnehmer noch über 400 Mrd. Schulden im Target-2-System der EZB, wenn auch bei leicht sinkender Tendenz. -600

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Targetsalden je Land Mai 2017 (in Mrd. Euro) Quelle: Statista

Die Schulden werden zumeist von italienischen Banken gehalten. International trauen sich nur noch wenige Investoren, diese Papiere anzufassen. Italien schafft es selbst bei den von Mario Draghi nach unten manipulierten Zinsen nicht, seine Schulden im Griff zu halten. Kommen höheren Zinsen, droht eine Krise. Die faulen

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Kredite in den italienischen Banken liegen nach Angaben des IWF bei rund 450 Mrd. Euro. Anteilig sind es nach Angaben der Banca D’Italia rund 17%. Gesund ist das nicht - aber weil der italienische Staat einerseits diese Banken braucht, um die eigenen Anleihen zu kaufen und andererseits einen Dominoeffekt im Bankensektor fürchtet, werden sie vor dem Bankrott gerettet. 2500

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ger, zumeist Versicherungen und Pensionsfonds, hätten solch einen Ausfall womöglich nicht verkraftet. Private Anleger wollte man ebenfalls nicht schädigen. Am 7. Juni hatte Elke König, Vorsitzende des SRB, noch erklärt daß „Die Werkzeuge, die dem Abwicklungsmechanismus übertragen worden sind, effektiv sind um das Geld des Steuerzahlers davor zu schützen, für die Bankenrettung eingesetzt zu werden“. Am 23. Juni hat der SRB dann aber entschieden, dass die beiden Banken doch nicht systemrelevant sind und deshalb nicht unter die Aufsicht des SRB fallen. In anderen Worten - die Italiener hatten jetzt freie Hand für eine nationale Lösung. Diese Schmierenkomödie war immerhin aufschlussreich: 1. 2.

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Staatsschulden Italien in Mrd. Euro, Quelle: Statista

Vor wenigen Tagen wurden zwei italienischen Banken zu Lasten des Steuerzahlers gerettet: Die Banca Popolare di Vicenza SpA and Veneto Banca SpA wurden mit 17 Mrd. Euro Steuergeld gerettet und die gesunden Teile für einen Euro an die größte italienische Bank, die Intesa Sanpaolo SpA, übertragen. Nach den Regeln der europäischen Bankenunion ist diese Rettung zu Lasten der Steuerzahler illegal. Eigentlich hat die EZB diese Banken nämlich auf einer Liste von systemrevelanten Banken im Eurosystem geführt. Dort hatten sie noch in 2016 den sogenannten StressTest bestanden, obwohl ihre Bilanzen voller Schrottpapiere steckten. Als systemrelevante Banken hätte man sie dem Abwicklungsmechanismus SRB übertragen müssen. Die Anleger hätten in diesem Fall Geld verloren. Politisch war das aber nicht gewünscht. Die Anle-

Der Bankenstresstest der EZB ist politisch manipuliert und wertlos. Rechtsbrüche sind in der Eurozone die Regel, nicht die Ausnahme Italien ist nur noch nicht pleite, weil Mario Draghi kurzfristig die Zinsen manipuliert und die Märkte langfristig davon ausgehen, dass Deutschland die Rechnungen begleicht.

So ist die Natur des Eurosystems: Weil viele große Wirtschaftsteilnehmer im Eurosystem eigentlich zahlungsunfähig sind, müssen akut gefährdete Banken und Staaten immer wieder gerettet werden. Jeder Zahlungsausfall könnte von den Märkten als ein Präzedenzfall angesehen werden und einen solchen darf es nicht geben. In einem solchen Fall würden die Zinsen für alle anderen gefährdeten Teilnehmer steigen, und das wäre nicht zu verkraften. Der Bankrott ist aber nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Bei jeder „Rettung“ wird die Belastung in die Zukunft und auf die nächst höhere Ebene verschoben. Also von den Banken zunächst zum italienischen Staat, und dann weiter ins Eurosystem und nach Deutschland. Um den italienischen Staat zu retten, wird man deutsches Geld benötigen. Die EU arbeitet aktuell daran, die Europäischen Verträge zu reformieren und diese Geldtransfers einzurichten. q

Liberal-Konservative Reformer

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Viele Meinungen, wenig Harmonie Das italienische Parteiensystem Die Unzufriedenheit mit der Politik ist tief verwurzelt in der italienischen Gesellschaft. Dem entsprechend zerklüftet ist auch Italiens Parteienlandschaft. Dabei wurden die etablierten Parteien bereits Anfang der 90er Jahre abgestraft und einige neue regionale und thematisch-fokussierte Parteien schafften es in die Parlamente. Exemplarisch hierfür stehen die Bürgermeisterwahlen 1993, in denen es keine einzige Regierungspartei schaffte, in die Stichwahlen einzuziehen. Mit einer Reform des Wahlrechts im Jahr 1994 vollzog Italien auch einen Bruch mit dem bisherigen Parteiensystem. Bei den anschließenden Parlamentswahlen lagen die traditionellen Parteien weit abgeschlagen hinter Parteineugründungen, allen voran der Partei Silvio Berlusconis, der Forza Italia. Die stark zerklüftete Parteienlandschaft begünstigte fortan die Bildung parteipolitischer Allianzen, deren Schwerpunkte Mitte-Rechts und Mitte-Links Bündnisse bildeten. Diese Allianzen hatten allerdings nur für die Dauer der Wahlkämpfe bestand und teilten sich nach der Wahl wieder in ihre jeweiligen Parteien auf. Bis 2008 hielt diese Fragmentierung an, es waren kontinuierlich mehr als zehn Parteien im Parlament vertre-

Ulrike Trebesius

ten, wovon mindestens fünf Parteien notwendig waren um eine Regierung zu bilden. Zur Parlamentswahl 2008 entschlossen sich die beiden größten Parteien Italiens, keine ausufernden Bündnisse mehr einzugehen und schmiedeten lediglich kleine Allianzen. Dies sorgte für eine deutliche Reduktion der im Parlament vertretenen Parteien. Seit 2013 besteht in Italien eine sehr instabile Situation, die sich in zahlreichen Regierungswechseln offenbarte. Das Linksbündnis von Pier Luigi Bersani konnte dabei eine hauchdünne Mehrheit erzielen, verfehlte aber eine Mehrheit in der zweiten Kammer, dem Senat. Dadurch besteht faktisch eine Patt-Situation. Italien erlebte in vier Jahren drei Regierungen und sollte noch im Jahr 2017, voraussichtlich zeitgleich mit der deutschen Bundestagswahl, erneut Neuwahlen durchführen. Laut Aussagen von Matteo Renzi, Vorsitzender der sozialdemokratischen Regierungspartei, wird es in diesem Jahr allerdings keine vorgezogenen Neuwahlen mehr geben und im regulären Turnus 2018 gewählt werden. Aktuell zeichnet sich eine erneute Machtverschiebung in Italien ab. Beppe Grillo und seine eurokritische 5-Sterne Bewegung erzielten bei der Parlamentswahl Seite 10 >>>

Fotolia.com | Urheber: stockme

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@Bernd_Koelmel

28. Juni 2017

@BerndLucke

8. Juli 2017

Gut, dass Herr Oettinger Position der #LKR und @ ecrgroup bezüglich Prüfung des Mehrwerts von EU-Mitteln übernimmt .

Sie haben so sehr Angst vor den bösen Rechten, dass sie die linken Gewalttäter nicht einmal mehr wahrnehmen. Erbärmlich für einen Politiker.

Quelle: Bernd Kölmel

Quelle: Bernd Lucke

31. Mai 2017

Commission states: Since 2008 #Eurozone has grown less than 4% (not even 0,5 % annually). Calls it success. #DeepeningEMU #AreYouSerious? Quelle: Joachim Starbatty

@HansOlafHenkel

9. Juli 2017

1998: Amnesty International fordert Freilassung Erdogans 2017: #Erdogan lässt AI Direktorin ins Gefängnis werfen. #FreeIdil #İdilEser Quelle: Hans-Olaf Henkel

Foto: fotilia.com | Autor: santypan

@JStarbatty

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Liberal-Konservative Reformer

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Fotolia.com | Urheber: RAWKU5

>>> Fortsetzung von Seite 8 2013 bereits 25% und könnten ihr Ergebnis laut aktuellen Umfragen auf rund 30% ausbauen. Damit würde es knapp zur stärksten Kraft in Italien reichen. Italien befindet sich derzeit immer noch in schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist Italien die drittgrößte Volkswirtschaft. Italiens Wachstumsprognosen liegen um die 1%, was bei einem Schuldenberg von 2250 Milliarden Euro (2016: 133% am BIP) eine nachhaltige Schuldentragfähigkeit gefährden könnte. Marode Banken und verkrustete, mit sich selbst beschäftigte politische Strukturen runden das Bild der Unsicherheit ab. Hinzu kommt das gravierende Problem mit den noch immer hohen Flüchtlingsströmen über das Mittelmeer, die zum überwiegenden Teil in Italien landen.

Zieht man die spieltheoretische Veto-Spieler-Theorie zu Rate, die die Reformierbarkeit eines Landes weitestgehend anhand diverser Kriterien, wie der ideologische Nähe und der Anzahl der Regierungsparteien, vorherzusagen versucht, so kann man bereits jetzt davon ausgehen, dass Italien nach der Wahl 2018 keine nennenswerte Fortschritte machen wird. Tiefgreifende Reformen scheitern dabei an den Partikularinteressen der Parteien und einzelner Akteure. Es ist in der aktuellen Lage noch kein Momentum erkennbar, welches die zerklüftete Parteienlandschaft aufeinander zuführt. Im Gegenteil, wer sich für tiefgreifende Reformen einsetzt, der ist in der aktuellen Lage nicht sonderlich populär. Für Europa und die Eurozone bedeutet dies: Unsichere Zeiten haben auch zukünftig bestand. Das Szenario eines Austritts Italiens aus der EU oder der Eurozone ist nach wie vor denkbar. q

Impressum Redaktion Katharina Klein, Patricia Casale Email: [email protected] V.i.S.d.P Prof. Dr. Bernd Lucke MdEP Europäisches Parlament Bât. Willy Brandt, 06M013 60, rue Wiertz B-1047 Brüssel, Belgien Tel. +32(0)2 28 47268 Fax +32(0)2 28 49268 Email: [email protected] Editorial Design: Vokler Heinecke

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Im Schatten der italienischen Bankenkrise Eurokrise 4.0 und die Sozialversicherungssysteme Die niedrigen Zinsen seit der Eurokrise sind ein steigendes Problem für das Rentensystem. Für Finanzinstitute ist das gesunkene Zinseinkommen eine enorme Belastung. Hier werden die drängendsten Fragen rund um das Rentensystem behandelt und die Fakten benannt. Die direkte und indirekte Verschuldung wird sich auch irgendwann auf die Sozialpolitik niederschlagen. Zweiklassen-Rente in Deutschland Überall in Deutschland stößt man momentan auf das Thema Altersarmut und das in Zeiten, in denen es den Rentnern so gut geht, nie zuvor. Die verfügbaren Einkommen der Rentner in Westdeutschland sind seit Mitte der Achtzigerjahre um 52% gestiegen, während bei Menschen unter 45 Jahren die Einkommen im gleichen Zeitraum nur maximal um 31% zulegten.

Woher kommt also die Angst vor Altersarmut? Laut einer Umfrage fürchtet jeder Zweite im Alter nicht abgesichert zu sein. Der Anteil der Rentner, die auf Grundsicherung, das wie Hartz IV das Existenzminimum absichert, angewiesen ist, lag im Jahre 2015  bei 3%. Der  Anteil der unter 65-Jährigen lag mit 9,3 % dreimal höher als jener der über 65-Jährigen, also den Rentnern. Somit trifft die Armut jene, die sehr wenige oder zu geringe Beiträge bezahlt haben, weil sie nur vorübergehend oder nur geringfügig arbeiteten oder von der Versicherungspflicht befreit waren. Hierzu gehören Frauen, mit langen Baby- und Erziehungspausen, Menschen mit unterbrochenen Berufsbiographien, Geringverdiener und kleine Selbstständige. Liberal-Konservative Reformer

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Um bei diesen Menschen die Altersarmut zu vermeiden, sind - laut wissenschaftlichem Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Maßnahmen notwendig, die Qualifizierung und Integration in den Arbeitsmarkt fördern. Können Arbeitsmarktmaßnahmen tatsächlich helfen? Bisher arbeiteten nur Menschen mit geringer Qualifikation im Niedriglohn-sektor. Inzwischen findet man aber selbst dort Arbeitskräfte, die sehr gefragt sind, wie Fach- oder Pflegekräfte. Mehr als die Hälfte der Hartz IV-Aufstocker haben eine abgeschlossene Berufsausbildung und arbeiten als Fachkräfte. Was geschieht mit der Rente im Zeitalter der Digitalisierung? Vor 20 Jahren war eine Banklehre eine ordentliche Ausbildung mit Jobgarantie. Mit der Digitalisierung ist aber völlig unklar, wie sich eine gute  Ausbildung definiert - ganz zu schweigen von einer lebenslangen Garantie zum gut bezahlten Job. Wenn immer mehr Jobs durch künstliche Intelligenz oder Maschinen ersetzt werden, können diese auch durch weniger gut ausgebildete Personen bedient werden, die wiederum schlechter bezahlt werden. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich früher oder später fast alles automatisieren lässt. In welchem Umfang Menschen ersetzt oder zu welchem Lohnniveau beschäftigt werden, ist die große Frage. Darauf muss sowohl gesellschaftlich als auch für die Sozialversicherungssysteme eine Antwort gefunden werden. Zwar bestätigt die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit), dass das deutsche Rentensystem im internationalen Vergleich gut dasteht, da die Rentenkassen gut gefüllt und die Finanzlage auch langfristig stabil sei. Aber wie sich Arbeitsmarkt und Lohngefüge bis dahin entwickeln, lässt sich noch nicht absehen. Und die Pensionslawine rollt… Im Jahr 2016 stiegen die zu erwartenden Mehrkosten für Beamtenpensionen und –beihilfen gegenüber dem Vorjahr um 63 Milliarden Euro auf 647 Milliarden Euro. Nicht mit eingerechnet sind die Kosten für Kommunen und Länder, die den Großteil der Beamten wie Polizisten, Richter und Lehrer beschäftigen. Rund 1,3 Millionen Beamte sind für Bundesländer tätig, aber selbst das reiche Bayern habe nur 2,5 Milliarden Euro als Rücklage gebildet, meldet das Handelsblatt.

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Während das Rentenniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahr 2030 auf 43 Prozent absinken könnte, würden Beamte – Stand heute – immer noch 71,75 Prozent ihres Bruttogehalts als Pension bekommen. Altersbezüge von Beamten orientieren sich am letzten Einkommen, während die gesetzliche Rente sich nur am Durchschnittseinkommen der gesamten Erwerbstätigkeit orientiert. Am Tropf des Steuerzahlers In Deutschland sind 85 Prozent der Beamten privat krankenversichert und stellen knapp die Hälfte der rund 8,8 Millionen Privatversicherten in Deutschland. Zusätzlich erhalten sie noch die sogenannte „Beihilfe“, bei der der Staat 50-70 Prozent der Arzt- und Krankenhauskosten übernimmt. So lässt sich die Studie der Bertelsmann-Stiftung in einer zugespitzten Lesart derart interpretieren, dass auch die privaten Krankenversicherer am Tropf der Steuerzahler hängen. Somit sind es die Steuerzahler, die für die Beihilfen der Beamten aufkommen müssen. Laut Prognose müssen die Bundesländer 83 Prozent und der Bund 46 Prozent mehr für diese Beihilfen bis 2030 einplanen. Harte Einschnitte sind notwendig Aufgrund der explodierenden Gesundheitsausgaben für Beamte empfiehlt die Bertelsmann-Stiftung, auch Staatsdiener ins System der gesetzlichen Krankenversicherung zu zwingen, indem Bund und Länder keine Beihilfen mehr zahlen. Eine bittere Empfehlung auch für Privatversicherer: sie würden fast die Hälfte ihrer Kunden verlieren. Das System der privaten Krankenvollversicherung dürfte damit kaum zu retten sein, wie das Bertelsmann-Szenario zeigt. Würde die Beihilfe für Beamte abgeschafft und für sie auch die gesetzliche Krankenversicherungspflicht eingeführt, beträfe das rund 67 Prozent der bislang privat versicherten Staatsbediensteten in Arbeit und Ruhestand, berichtet die Bertelsmann Stiftung. Sie fielen unter die bestehende Versicherungspflichtgrenze. Weitere 21 Prozent würden aus finanziellen Gründen freiwillig in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) wechseln. Lediglich 12 Prozent der bisher privat versicherten Beamten blieben das aus finanziellen Gründen auch weiterhin. Mit großen Auswirkungen: Schon im ersten Jahr nach Inkrafttreten der Reform würde der Staat laut den Bertelsmann-Berechnungen drei Milliarden Euro einsparen. Bis 2030 würden die öffentlichen Haushalte um insgesamt rund 60 Milliarden Euro entlastet.

Nachhaltigkeit unserer Sozialversicherungssysteme Nachhaltig sind unsere Sozialversicherungssysteme nicht, denn man sollte die versteckte Staatschuld von 153 Prozent des BIP oder umgerechnet 4,6 Billionen Euro nicht vergessen, die sich aus den Ansprüchen der Bürger an das Rentensystem, die Pflegeversicherung und die gesetzliche Krankenversicherung ergeben plus den immensen Pensionslasten. Anstatt die Nachhaltigkeitslücke in Höhe von 6,8 Billionen Euro durch Rücklagen zu sichern, werden weitere Rentenversprechen von der Politik gemacht, die in die falsche Richtung gehen. Wie Frau Merkel jüngst bei der Vorstellung ihres CDU-Wahlprogamms erklärte, wird dieses Thema nicht behandelt. Sie liest die Studie wohl erst nach der Wahl.

Foto: fotilia.com | Urheber: Anke Thomass

Armutsgefährdung in der EU 12,6 Millionen EU-Bürger ab 65 Jahren armutsgefährdet In der EU galten 2014 rund 12,6 Millionen beziehungsweise 14% der Bevölkerung ab 65 Jahren als armutsgefährdet. Das heißt, sie verfügten inklusive staatlicher Transferleistungen über weniger als 60% des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung. In der Europäischen Union ist rund jede siebte Person ab 65 Jahren armutsgefährdet. Das entsprach rund 81 Millionen Frauen und 4,5 Millionen Männern. q

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Armutsgefährdungsquote ab 65 (2014)

Quelle: Statistisches Bundesamt, Ältere Menschen in Deutschland und EU, 2016

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Kurz notiert

Foto: fotilia.com | Urheber: Daisy Daisy

Alt – aber fix Während ältere Menschen (65+) sich mit allgemeinen Investitionen gegenüber den Jüngeren zurückhalten, treten sie beim Stichwort Mobilität aufs Gas: 7% aller Haushalte über 65 besitzen E-Bikes, die übrigen Haushalte nur 3%. Einen Neuwagen besitzen 42% der Seniorenhaushalte, aber nur 32% der übrigen Haushalte. (Stand 2016)

Web-Tipps http://euro-europa.eu - Die Euro-Website Was bedeutet der Euro für Ihr Leben? Wie stehen die unterschiedlichen Parteien zu den Problemen des Euro? Was für Lösungsmöglichkeiten gibt es für die Eurokrise? Wie ist der Euro entstanden und was sollte man sonst noch über ihn wissen. Eine neue Website stellt sich all diesen Fragen und bietet ausführliche Informationen zu unserer Währung.

Alt – aber fix Während ältere Menschen (65+) sich mit allgemeinen Investitionen gegenüber den Jüngeren zurückhalten, treten sie beim Stichwort Mobilität aufs Gas: 7% aller Haushalte über 65 besitzen E-Bikes, die übrigen Haushalte nur 3%. Einen Neuwagen besitzen 42% der Seniorenhaushalte, aber nur 32% der übrigen Haushalte. (Stand 2016)

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Statt Friedensinstrument, Militarisierung von Drittländern

Foto: fotilia.com | Urheber: Jörg Hüttenhölscher

Das Instrument für Stabilität und Frieden (ISP) ermöglicht der EU, Drittländern zu helfen, Konflikten vorzubeugen oder auf aktuelle Krisen zu reagieren. Das ISP hat für den Zeitraum von 2014 bis 2020 ein Budget von rund 2,3 Milliarden Euro zur Verfügung. Ursprünglich dient es zur Prävention von Konflikten weltweit. Aber um Migration fernzuhalten, hat das EU-Parlament einen Vorschlag der EU-Kommission angenommen, dass das ISP um 100 Milliarden Euro aus anderen Töpfen aufgestockt – und damit sodann das Militär in Krisenregionen gestärkt werden soll. Die Abstimmung im Plenum erfolgt zwar erst im September aber die Mehrheiten der stärksten Fraktionen hat in den Ausschüssen schon ihre Zustimmung gegeben. Die klassische Entwicklungshilfe allein, hält man für gescheitert.

http://risiko-uhr.eu/ - Deutschlands Risiko durch den Euro Den meisten Deutschen ist nicht bewußt, welche Risiken die Gemeinschaftswährung Euro mit ihren Konstruktionsfehlern und Problemen für uns bedeutet. Dieses Risikobewußtsein zu wecken, ist das zentrale Anliegen dieser Website.

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behörden zur Feststellung von im Ausland angesiedelten Domizilgesellschaften (Briefkastenfirmen) verbessert werden. Interessanterweise erfasst die Meldepflichten nur Briefkastenfirmen außerhalb EU und gilt nicht für Malta und Zypern! Außerdem gelte die Meldepflicht nur für Banken und nicht für andere Firmen, die ebenfalls Briefkastenfirmen vermitteln würden. Gleichzeitig wurde das Bankgeheimnis (§30a AO (Abgabenordnung)) gestrichen, das alle Bankkunden zum gläsernen Bürger macht.

Nahezu unbemerkt wurden weitere Anschläge auf unsere bürgerlichen Freiheiten verübt. Dazu gehört einmal das Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz, dass im medialen Hype um die „Ehe für alle“ völlig untergegangen ist. Mit diesem Gesetz sollen Steuerumgehungsmöglichkeiten mittels der Gründung und Nutzung von Briefkastenfirmen verhindert werden. Durch zusätzliche Auskunfts- und Informationspflichten sollen die Möglichkeiten der Finanz-

Außerdem wurde mit dem neuen nationalen Geldwäschegesetz Änderungen der Vierten EU-Geldwäsche-Richtlinie in der Geldwäsche- und Terrorismusbekämpfung in Deutschland umgesetzt. Damit wurde die Obergrenze für Barzahlungen von 15.000 auf 10.000 € gesenkt  und anonyme Barzahlungen über 10.000 € nicht mehr erlaubt. Interessanterweise entspricht diese Vorgehensweise einem Arbeitspapier zur Bargeldbeseitigung (de-cashing) vom IWF. Es wird empfohlen mit der Abschaffung von großen Geldscheinen, der Einführung von Obergrenzen für Barzahlungen und der Kontrolle von Bargeld über Grenzen zu beginnen. Hier kann man sehr gut beobachten, wie den IWF Ratschlägen gefolgt wird. Erst die Abschaffung des 500 €-Scheins, jetzt die gesenkte Bargeldobergrenze. Weitere Schritte werden sicher folgen.

…dass die Geburtenrate in Griechenland, Portugal und Zypern in Europa am geringsten ist?

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Deutschland ist mit 1,49 Kindern pro Frau auf Platz 26 von 39.  Die höchsten Fertilitätsraten pro Frau haben Frankreich, Irland und Island mit über 1,94 Kindern. Der EU(28)-Schnitt liegt bei 1,58 Kindern pro Frau.  In Deutschland sieht man, dass sich die Fertilitätsrate pro Frau zwischen Deutschen und Ausländerinnen bis 2009 gegenläufig entwickelt. Während Ausländerinnen immer weniger Kinder pro Frau gebärden, stieg die Quote gleichzeitig bei Deutschen oder eingedeutschten Frauen. 

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Zusammengefasste Geburtenziffern (je Frau):

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Quelle: Statistisches Bundesamt (Destatis) 2017, Stand 17.7.2017

Wussten Sie schon, dass…

Leserfrage Unsere Redaktion freut sich auf Feedback oder Ihre Frage! Schreiben Sie dazu gerne an: [email protected]

Zitat des Monats

„Man kann Armen nicht helfen, indem man die Reichen vernichtet.“ ABRAHAM LINCOLN, 16. Präsident der USA * 12.02.1809, † 15.04.1865 (ermordet)

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einfachen Nenner herunterzubrechen. Konrad Ade- nauer hat man bisher noch nicht unterstellt, populis- tisch gewesen zu sein, als er behauptete „Man muss.

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