Ljudmila Belkin
Micha Ullman. Sandblätter Am 7. November 2006 eröffnet die dsArt Galerie eine neue Ausstellung mit dem Titel „Sandblätter“, in der Sandzeichnungen, plastische Arbeiten, Radierungen und eine Installation des israelischen Künstlers Micha Ullman zu sehen sein werden. In dieser Aufzählung ist nichts Ungewöhnliches – viele Künstler arbeiten heute in mehreren künstlerischen Techniken parallel. Wenn man aber Micha Ullman kennt, und ihn kennt man in Deutschland vor allem als einen Bildhauer, stolpert man über die Tatsache, dass bei der jetzigen Ausstellung die zweidimensionalen Werke dominieren. Könnte etwa die begrenzte Raumkapazität einer Galerie dafür verantwortlich sein? Offensichtlich nicht, denn das Zeichnen spielt im Werk und in der Weltanschauung des Künstlers eine besondere Rolle. Nach Ullmans eigener Aussage, helfen ihm die Zeichnungen seine bildhauerischen Werke zu verstehen. Zumindest war es früher so, als Micha Ullman Zeichnungen zu seinen Skulpturen gemacht hat. Schon damals jedoch standen Zeichnungen autonom neben seinen räumlichen Arbeiten. Sie sind eine Art „Gedankenbilder“, die mit den Skulpturen eine thematische Verwandtschaft innehatten. Die Sandzeichnungen, die in der aktuellen Ausstellung gezeigt werden – es sind zwei Serien „Gläser“ und „Bücher“, beide 2006 entstanden – reflektieren nicht mehr ausschließlich Ullmans eigene Werke, sondern das Alltägliche. Bei den „Gläsern“ spielt die Wechselwirkung zwischen der Leere des Glases und der Fläche des Blattes die zentrale Rolle. Es ist viel drin: Berührung, Spiegelung, das Hinterlassen der Spuren. Das ist ein Dialog, eine Konversation – vielleicht wie an einem Tisch in einer Kneipe, wo Gläser die Spuren der Gespräche hinterlassen oder widerspiegeln. Ähnliche Assoziationen ruft die Installation „Sandtisch“ hervor. Ein anderes Thema, „Bücher“, wird in den Zeichnungen und auch als Plastik dargestellt. Die Eisenskulpturen „Sandbücher“ (2001) bestehen aus zwei gegensätzlichen Materialien: aus hartem, geformten Eisen und weichem, gleitendem Sand. Doch statt einer Kontroverse, entspannt sich auch hier ein leiser Dialog zwischen den beiden, in dem der weiche Sand die harten Eisenformen füllt, während seine Rostfarbe sich mit den roten Tönen des oxidierten Eisens vermischt. Die Serie „Sandbücher“ konzipierte der Künstler als ein Prozess. Der Blick des Betrachters „gleitet“ durch mehrere Bücher, von einem geschlossenen zu einem vollständig geöffneten Buch. Auf diese diskrete Manier wird der Betrachter zum meditativen Nachdenken eingeladen. Micha Ullman, geboren 1939 in Tel Aviv als Sohn jüdischer Zuwanderer aus Dorndorf bei Eisenach, ist in Deutschland schon lange bekannt. Er nahm an mehreren documenta in Kassel 1
teil, hatte 1976 eine Gastprofessur an der Düsseldorfer Hochschule für Bildende Künste und war zwischen 1991 und 2005 Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Von zahlreichen skulpturalen Objekten und Bodenarbeiten ist das Denkmal Bibliothek am Berliner August-Bebel-Platz wohl sein bekanntestes Werk in Deutschland, das an die Bücherverbrennung von 1933 erinnert. In den neu eröffneten Ausstellungsräumen des Museums Wiesbaden werden eine kosmologische Bodenarbeit und eine Rauminstallation mit Sandeisenplastiken Micha Ullmans in Nachbarschaft einer Sonderausstellung mit Werken von Joseph Beuys und einer Installation von Ilja Kabakov präsentiert. Die museale Positionierung von Ullmans Werk deutet seine Fähigkeit an, die Grenzen der Stilrichtungen zu überschreiten, über die Grenzen zu „gleiten“. Frankfurt, 2006
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