Friedensgebet am 09. Oktober 1989 in St. Nikolai, Aufzeichnung von Pfarrer C. Führer ___________________________________________________________ 1. Die Ereignisse vor diesem Montag waren erschreckend: Anonyme telefonische Drohungen ("Wenn ihr noch ein Friedensgebet in der Kirche abhaltet; steht eure Kirche in Flammen"), unverhüllte Drohungen in der Presse, wobei der Artikel der LVZ vom 6.X.1989( "Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden": „...um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!") am meisten schockierte. Wie ernst diese Drohungen zu nehmen waren, zeigten die Ereignisse am 7. Oktober. Wie bisher immer an staatlichen Feiertagen (1.Mai und 7. Oktober)war unsere Kirche nicht geöffnet. Von unserer Wohnung aus wurden wir Zeugen des gewaltsamsten Polizeieinsatzes, den wir persönlich erlebten, gegenüber einer wehrlosen, gewaltlosen Menschenmenge, die erstaunlicherweise dennoch keine Angst zeigte. Das Einschlagen auf wehrlose, bereits festgenommene Menschen hat uns um so mehr entsetzt, da wir solches Vorgehen staatlicher Organe bisher nicht kannten. Am Sonntag war ein für den 20. Sonntag nach Trinitatis erstaunlich hoher Gottesdienstbesuch. Betroffene berichteten uns im Anschluss über die Härte des Einsatzes, über Verletzungen, wobei eine Zahl der Verletzten nicht zu ermitteln war. ' 2. Der Montag begann und verlief mit einer nicht abreißenden Menge von Anrufen, uns zu warnen. Noch während des Friedensgebetes wurde meine Frau von tränenerstickten Anrufen erreicht, es würde geschossen , wir sollten die Menschen alle warnen und schützen. Die Bedrückung, der Druck auf uns waren sehr hoch. Vorbereitend hatten wir die Nachbargemeinden gebeten, ihre Kirchen zu öffnen und zu unserer Entlastung zur gleichen Zeit Friedensgebete wie wir anzubieten. So konnten in folgenden Kirchen gleichzeitig Friedensgebete stattfinden: - Nikolaikirche wie jeden Montag, 2000 Menschen, Tausende konnten wir aus Platzgründen nicht mehr einlassen - Reformierte Kirche, 1100 Menschen, auch hier konnten nicht alle erfasst werden. - Thomaskirche, 2000 Menschen, auch hier musste vor 17h geschlossen werden wegen Überfüllung - Michaeliskirche, 900 Menschen. So konnten wir für 6000 Menschen Platz zum Friedensgebet schaffen. 3. Schon gegen 14h(um 17h beginnt das Friedensgebet!) war unser Kirchenschiff gut gefüllt. Was wir durch Hinweise der Bevölkerung erfahren hatten, schien sich zu bestätigen: Eine gezielte Aktion lief an, Hunderte SED-Genossen saßen in der Kirche. Wir waren dennoch überrascht, aber bei uns gilt voll und ganz: "Nikolaikirche – offen für alle"! Um 15h, endgültig um 15.30h konnten wir aus Platzgründen niemanden mehr hereinlassen. Meine Aufrufe zuvor in der Kirche zusammenzurücken, wurden ebenso befolgt wie meine Worte an die Menge draußen, doch noch eine der durch Schilder

ausgewiesenen Kirchen aufzusuchen, bis auch diese Kirchen überfüllt waren. 4. Trotz des stundenlangen Wartens war die Atmosphäre in der Kirche erstaunlich gut. Der Gottesdienst verlief in der von uns festgelegten Ordnung. Jesaja 45 lag der Verkündigung zugrunde. Die Konzentration litt nicht unter der Spannung des Tages und den auch in der Kirche vernehmbaren Rufen der Tausende um die Kirche herum. Besonderheit heute war folgendes: Zwei Männer aus Dresden berichteten über Dialogbereitschaft und ein erstes Gespräch mit Dresdens Oberbürgermeister; - Verlesung der Erklärung der Konferenz der katholischen Priester des Dekanates Leipzig zum Thema Vertrauensschwund; - das "Neue Forum" und die Arbeitskreise Gerechtigkeit, Menschenrechte und Umweltschutz riefen in schriftlichen Appellen zur Gewaltlosigkeit auf; - während des Gottesdienstes wurde mir eine Stellungnahme dreier SED-Sekretäre der Bezirksleitung, Prof. Masurs u.a. überreicht, welche ich verlesen ließ; - Landesbischof Dr. Johannes Hempel, der in allen Kirchen mit Friedensgebeten gesprochen hatte, hielt ein ernstes Schlusswort mit dem Aufruf zur absoluten Gewaltlosigkeit und erteilte allen den bischöflichen Segen. 5. Reaktionen auf dieses Friedensgebet von Genossen, soweit sie uns erreichten, waren überraschend positiv. Hervorgehoben wurde die Atmosphäre; man hatte alles erstaunlich gut erleben können. Sicherlich ist die bisherige Propaganda und Verleumdungswelle gegen unsere Friedensgebete eine Sache - das persönliche, tatsächliche Erleben eines solchen eine andere Sache! Die Folgen reichen bis in die "Junge Welt" vom 11.X. 1989, wo es unter der Überschrift "Ich, ein junger Genosse, war in der Nikolaikirche" heißt: Es sollte "die Bereitschaft zum Dialog mit den Vertretern der Kirche und ihr angeschlossenen Gruppen durch die Tat bewiesen werden... erstaunliche Atmosphäre gegenseitigen Einvernehmens über aktuelle gesellschaftliche Probleme...". Ein wahrhaft erstaunlicher Vorgang bzw. eine erstaunliche Auslegung! 6. Die Menge auf dem Nikolaikirchhof war so dicht, dass ich befürchtete dass die 2 0 0 0 Manschen aus der Kirche nicht mehr Platz hätten. Aber das Herausgehen vollzog sich in Ruhe. Es wurde nur die Forderung laut, am nächsten Montag das Friedensgebet mit Lautsprechern auf den Platz draußen zu übertragen. Und das Wunder nahm seinen Fortgang: Die Gewaltlosigkeit blieb nicht ein hilfloses Wort in der Kirche, sondern wurde mit auf die Straße genommen, Wo provokatorische Rufe wie "Stasi raus" angestimmt wurden, erhob sich eine mächtige Stimmenwoge: "Keine Gewalt! Keine Gewalt!", so dass die anderen Rufe verstummten. Ein Zug von 70.000 Menschen begann durch die Innenstadt. Es war bewegend, wie gewaltlos sich dieser Menschenstrom bewegte. Kampfgruppengehörige und Polizisten wurden in Gespräche verwickelt und ließen sich auf Gespräche ein. Es wurde deutlich, dass diese 70.0 0 0 Menschen keine Rowdys oder Kriminelle sind, auch keine Konterrevolutionäre. Die dominanten Sprechchöre waren: "Keine Gewalt", "Gorbi", "Wir sind das Volk", "Schließt euch an", "Neues Forum zulassen". Kurzfristig war auch zu hören: "Führt bei uns Reformen ein, sonst kommt ihr ins Altersheim"... .

Nur wer diese Demonstration der Gewaltlosigkeit miterlebt hat, kann empfinden, was sie bedeutete. Der Segen GOTTES mit SEINEM Frieden begleitete die Menschen aus der Kirche auf die Straßen und Plätze! So ist doch immer klarer zu .erkennen, was unsere eigentliche Funktion ist, die wir seit Jahren der Friedensgebete auch mit diesen Zahlen, wahrnehmen: - Gelassenheit zu geben - Frieden zu stiften - Gewalt des Knüppels und des Denkens zu verhindern - Den dringenden notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen auf friedlichem Weg zur Verwirklichung zu helfen. Als wir abends 22h beieinander saßen, berichteten, gab es unter uns nur ein Gefühl: das Gefühl des Dankes gegenüber GOTT, des Dankes für erfahrene Bewahrung, des Dankes für den Geist CHRISTI der Gewaltlosigkeit. 7. Die westlichen Medien haben nach wie vor ein großes Interesse an uns. Wir haben dazu eine eigene Meinung. Wir warten darauf, dass endlich auch unsere Medien fragen, was in unserem Land geschieht, damit sich der DDR-Bürger nicht mehr ausschließlich durch westliche Medien über Leipziger Vorgänge informieren muss. Da ist es uns schon. wichtig, dass es Artikel in der UNION vom 4.X. ("Zum Dialog* über alle uns bewegenden Fragen ermutigen" ) und 11.X. (,"Gebete für Gewaltlosigkeit und Besonnenheit" und „Für einen sinnvollen Dialog") und in der "Jungen Welt" vom 11.X.-("Ich, ein junger Genosse, war in der Nikolaikirche") gibt. Da ist es uns schon aufgefallen, dass die für den Polizeieinsatz Verantwortlichen an diesem Montag außerordentlich besonnen und verantwortungsbewusst gehandelt haben wofür ihnen Anerkennung gebührt. Und da ist es mir persönlich aufgefallen als erstaunliche Besonderheit, dass mich am Montagabend zwei Journalisten vom DDR-Sender DT 64 aufsuchten, woraus ein langes Gespräch wurde. Darüber wurde in einer Sendung am 1o.X, nach 17h berichtet: Positive Reaktionen also auch bei uns! Bei aller Nüchternheit: Man kann ein Signal der Hoffnung sehen wollen. Wir wollen es!

Leipzig, 11. Oktober 1989,

Pfarrer

Aktennotiz 9. Oktober 89 Führer.pdf

Wir waren dennoch überrascht, aber bei uns gilt voll. und ganz: "Nikolaikirche – offen für alle"! Um 15h, endgültig um 15.30h konnten wir aus Platzgründen.

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