Peter Schyga: Im Kampf für die Diktatur. Die bürgerliche Rechte und die NSBewegung im Weimar der Krisenzeit. Eine historiographische Skizze und geschichtspolitische Anmerkungen zum gegenwärtigen Umgang mit der NSVergangenheit. Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung „Harzburger Front – im Gleichschritt zur Diktatur“ am 26. Januar 2012 in der Synagoge Celle

Begrüßung… Ich werde Sie in der nächsten halben Stunde nicht mit einer ausführlichen Inhaltsangabe der Ausstellung zur Harzburger Front vom 11. Oktober 1931 behelligen. Diese kann ja in den nächsten Wochen ausgiebig betrachtet und kritisch begutachtet werden. Sie können für das Heimstudium einen Katalog erwerben und auf unseren websites umfangreiche zusätzliche Informationen erhalten. Über Inhalt, Sinn und Zweck dieser Ausstellung, sowie über die historiografischpolitischen Optionen, die ihre Präsentation an Orten im Lande bieten soll, will ich einiges sagen. Denn es ist mir ein Anliegen – gerade auch wenige Stunden vor dem Holocaust-Gedenktag

–,

ein

paar

skizzenhafte

Überlegungen

zu

unserem

geschichtspolitischen Umgang mit der NS-Zeit und seiner Vorgeschichte zu formulieren. Dies tue ich auch, um auf der Grundlage der Erfahrungen mit der Vermittlung dieser Ausstellung – natürlich auch etlicher persönlicher Forschungs- und Lebenserfahrung – die lokalen Kräfte, die sich mit dieser Vergangenheit und ihren Folgen beschäftigen, in ihrem Tun zu ermuntern. Lassen Sie mich den Zugang in die Vergangenheit mit den Worten eines Zeitgenossen von Weimar eröffnen: „Alles scheint möglich, scheint erlaubt gegen den Menschenanstand, und geht auch die Lehre dahin, dass die Idee der Freiheit zum bourgeoisen Gerümpel geworden ist, … (es) erscheint die lehrweise abgeschaffte Freiheit nun wieder in zeitgemäßer Gestalt als Verwilderung, Verhöhnung einer als ausgedient verschrienen humanitären Autorität, als Losbändigung der Instinkte, Emanzipation der Rohheit, Diktatur der Gewalt. … Der exzentrischen Seelenlage einer der Idee entlaufenen Menschheit entspricht eine Politik im Groteskstil mit Heilsarmee-Allüren, Massenkrampf, Budengeläut, Halleluja und derwischmäßigem Wiederholen monotoner Schlagworte, bis alles Schaum vor dem Munde hat. Fanatismus wird Heilsprinzip, Begeisterung 1

epileptische Ekstase, Politik wird zum Massenopiat des Dritten Reiches oder einer proletarischen Eschatologie, und die Vernunft verhüllt ihr Antlitz.“1 So formulierte der deutsche Dichter Thomas Mann als Bürger der Weimarer Republik im Oktober 1930, also wenige Wochen nach den fünften Reichstagswahlen, bei denen 6,5 Millionen Wählerinnen und Wähler den Nationalsozialisten zu 107 Mandaten verholfen hatten. Der deutsche Nationaldichter der Moderne sprach sozusagen vor Seinesgleichen. Er beschwor im Beethovensaal in Berlin das deutsche Bürgertum, den Nationalsozialisten energisch entgegenzutreten, weil diese im Begriff wären, die deutsche Kulturnation zu zertreten. Und – er ging in dieser Rede einen für seine Verhältnisse gewaltigen Schritt weiter. Er empfahl seinen Zuhörern – und über den Abdruck der Rede im Berliner Tageblatt einen Tag später auch dem lesenden Bürgertum – die Unterstützung der Sozialdemokratie. Er begründete dies ausführlich – ich beschränke hier seinen Appell auf wenige Zitate: „Die sozialistische Klasse ist, im geraden Gegensatz zum bürgerlich-kulturellen Volkstum, geistfremd nach ihrer ökonomischen Theorie, aber sie ist geistfreundlich in der Praxis – und das ist, wie heute alles liegt, das Entscheidende.“2 Und er schließt mit den Worten: Wenn er seiner Überzeugung Ausdruck verleihe, „dass der politische Platz des deutschen Bürgertums heute an der Seite der Sozialdemokratie ist, so verstehe ich das Wort ‚politisch’ im Sinn dieser [er meint der nationalen] inneren und äußeren Einheit. Marxismus hin, Marxismus her, – die geistigen Überlieferungen deutscher Bürgerlichkeit gerade sind es, die ihr diesen Platz anweisen; denn nur der Außenpolitik, die der deutsch-französischen Verständigung gilt, entspricht eine Atmosphäre im Innern, in der bürgerliche Glücksansprüche wie Freiheit, Geistigkeit, Kultur überhaupt noch Lebensmöglichkeit besitzen.“3 Soweit das Bild von Gegenwart eines auch damals nicht unbedeutenden Zeitgenossen. Man kann retrospektiv durchaus der Meinung sein, dass Th. Mann die Rückgratsstabilität des deutschen Bürgertums, seine innere demokratische Stärke und politische Gestaltungsfähigkeit idealistisch beurteilt hat. Doch er hatte sehr klar gezeigt, dass ein aktiver Zusammenschluss um Republik, Demokratie und Recht, der die zerstörerischen Kräfte eindämmen könnte, das Gebot der Stunde wäre. Über des Gemeinbürgers geistige Befindlichkeit irgendwo im Bereich schwadronierender 2

Neoromantik,

esoterisch

anmutendem

Kulturpessimismus

und

aggressiv-

nationalistischem Revanchismus machte er sich allerdings keine Illusionen. Wie wir wissen, ging sein Appell ins Leere. Es ist anders gekommen. Statt sich hehrer Werte bürgerlicher Tradition Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Th. Mann spricht von „demokratischer Moralität“ – zu besinnen und um deren Durchsetzung im Politischen und in der Politik zu ringen, hat sich das deutsche Bürgertum in seiner Mehrheit in einem politisch-symbolischen Akt mit Hitlers Nationalsozialisten verbündet. Dieser Akt fand statt am 11. Oktober 1931 in Bad Harzburg. Er wurde umrahmt von hymnischer

Gottesanbeterei

und

martialischem

Gleichschritt

der

SA-

und

Stahlhelmeinheiten, ihn begleiteten entgeistigte, Gewalt beschwörende, nach Macht dürstende,

Vernichtung

androhende

Reden

im

Harzburger

Kurhaus,

dem

Versammlungsort. Dort hatte sich viel Prominenz eingefunden: „Auf dem großen Podium nahmen in der ersten Reihe Platz: Hugenberg, Hitler, Frick, die beiden Stahlhelmer Seldte und Duesterberg und der Führer der nationalen Verbände, General v. d. Goltz. Hinter ihnen mehr als hundert Parlamentarier und Wirtschaftler.“ (GZ v. 12.10.1931) Es redeten in der Reihenfolge: Hugenberg, Hitler, Seldte, Duesterberg, der Führer des Reichslandbundes Graf von Kalckreuth, der ehemalige und später von Hitler wieder ins Amt gesetzte Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, Justizrat Claß, Führer des Alldeutschen Verbandes, General Graf v. d. Goltz, Führer der nationalen Verbände. Dieser Akt des Schulterschlusse wurde schriftlich festgehalten in der Resolution von Bad Harzburg. Sie weist den Weg in die Diktatur, in ihr sind zudem wesentliche Grundpfeiler der Politik nach dem 30. Januar 1933 vorweggenommen: Die Abschaffung der Grundrechte, die Zerschlagung der Arbeiterbewegung zugunsten einer nationalen Wirtschaftsgemeinschaft, die Ächtung kultureller Befreiung, die Revanche

für

Versailles

und

die

Schaffung

einer

Volksgemeinschaft der

Rassegleichen. Alle Redner beschworen mit unterschiedlicher Betonung den Kampf gegen Bolschewismus, Sozialdemokratie und internationales Judentum, kündeten von der bevorstehenden nationalen Erhebung Deutschlands. Die regionalen Reaktionen will ich Ihnen nicht ganz vorenthalten, geben sie doch im Kleinen die Befindlichkeiten im Reich wieder.4 Während etwa die Goslarsche Zeitung 3

aus der Nachbarstadt sich in nationalistischer Hybris überschlug, bis sie wenige Monate

später

mit

der

Titelzeile

„Der

Kandidat

heißt

Hitler“

in

die

Reichspräsidentenwahl eingriff, spielte die Lokalzeitung kein Crescendo, gab sich nachdenklich abwartend, aber traf doch zielgenau den Kern der Harzburger Entschließung. Als wollte er einen Gegenentwurf zu Th. Mann verfassen, formulierte der Schriftleiter der Harzburger Zeitung am 31. Oktober 1931 in seinem Blatt unter der Überschrift „National, ein notwendiges Kapitel deutscher Philosophie“: „Was wir wollen? Auf dem Posten, auf den uns das Schicksal gestellt, mit ganzem Herzen und redlichstem Mühen unsere Pflicht tun, kämpfen und streben und arbeiten für unsere Heimat, ihre Menschen, ihren Wohlstand und ihr Glück. Und über dem allen soll uns das Endziel stehen: Ein einiges deutsches Vaterland, in Überwindung von

Parteigeist

und

Klasseninteressen

zusammengeschweißt

zu

nationaler

Sammelpolitik. Ein großes Deutschland, in friedlicher, tapferer Arbeit aus Not und Schmach und Erniedrigung zu neuer Weltgeltung und neuem Glück geführt! Was wir wollen? Arbeiten und streben und kämpfen mit aller Kraft und aller Treue für das heilige, ewige Ziel: ‚Deutschland, Deutschland über alles!“ Von den bürgerlichen Tugenden des „deutschen Geistes“, der sich nach Th. Mann in einer demokratischen politischen Kultur äußern sollte, blieb nichts übrig. Damit ist der gesellschaftspolitische Rahmen, in dem die Veranstaltung stattfand, ganz grob umrissen. Wir haben uns bemüht, die Dokumentation dieses Ereignisses von Bad Harzburg in seinen politisch-sozialen Zusammenhang der Weimarer Krisenzeit zu integrieren. Inwieweit das gelungen ist, müssen sie selbst beurteilen.

Bürgerschaftliche Erinnerungsarbeit Wenn ich von wir rede, dann meine ich eine ganze Reihe von Personen und Institutionen, von Profis aus Geschichtswissenschaft, Pädagogik und Mediendesign sowie von politisch engagierten Menschen, die lange und intensiv in einem jederzeit öffentlichen Diskurs an diesem Ausstellungsprojekt gearbeitet haben und arbeiten. Dies Projekt wurde für Bad Harzburg von Bürgerinnen und Bürgern der Stadt und anderswo mit politischer und finanzieller Unterstützung des Stadtrats als Ausstellung in der Wandelhalle des Kurorts produziert. Durch die finanzielle Förderung der 4

Stiftung niedersächsische Gedenkstätten wurde das Projekt möglich. Zahlreiche Spenden von örtlichen öffentlichen Einrichtungen und privaten Sponsoren hielten die Selbstausbeutung der Macher in Grenzen. Dieser Entstehungsprozess bestand in einer kollektiven und öffentlichen Produktion – und öffentlich nehmen Sie bitte wörtlich, denn jede Quelle, jeder Textabsatz, jedes Stadium der Gestaltung wurde auf Versammlungen verhandelt, vieles davon von der Lokalredaktion der Goslarschen Zeitung dem Stadtbürgertum zugänglich gemacht. Parallel und in enger Wechselbeziehung betrieben wir Geschichtspolitik, also politischer Überzeugungsarbeit, die ihren Ausdruck darin fand, dass bis auf eine kleine Fraktion alle Stadtratsparteien ihre Unterstützung gewährten. Die Ausstellung wurde im Januar 2009 unter hoher Beachtung und Beteiligung eröffnet. Es ist nun ganz gewiss nicht alltäglich in unserer Republik, dass eine Stadt ein Dokumentationszentrum zur Entwicklung der NS-Bewegung in ihrer Mitte – im doppelten Sinn des Wortes – einrichtet. Und – auch das ist eine wichtige konkrete Erfahrung von Geschichtspolitik: trotz dieses selbstbewussten Aktes im Umgang mit einer nun gewiss nicht heroischen städtischen Vergangenheit musste die Ausstellung nach fast drei Jahren abgebaut werden. Ein Teil derselben politischen Kräfte, teilweise die gleichen Personen, die in 2007 und 2008 die Ausstellung unterstützt hatten, von denen sich einige eine zeitlang in der Aura eines außergewöhnlichen Geschichtsbewusstseins und Geschichtsverständnisses sonnten, verwehrten in Reaktion auf nicht öffentlichen gemachten Druck interessierter Kreise

ohne

Änderung

des

damals

einmütigen

Ratsbeschlusses

in

einem

administrativen Akt das weitere Verbleiben in der Wandelhalle. Das ist bedauerlich, zeigt aber nur, dass das Ringen um Geschichtsbearbeitung keine nachlassende Aufmerksamkeit verzeiht. Deshalb gehen wir jetzt vorwärts und konzipieren

ein

multimediales

Konzept

zur

Errichtung

von

dauerhaften

Geschichtspunkten im öffentlichen Stadtraum.5 Was sie ab heute hier sehen ist die text- und bildidentische Wanderversion, die wir, auf Nachfrage außerhalb der Stadt spekulierend, nachträglich erarbeitet und produziert haben. Sie wurde 2010 im niedersächsischen Landtag vom Präsidium und Kultusministerium eröffnet worden. Die Stiftung Nord/LB-Öffentliche, die FriedrichEbert-Stiftung, die Rosa-Luxemburg-Stiftung (ich vergesse keine, wir haben bei allen 5

parteinahen Stiftungen Förderanträge gestellt, es gab eben auch Ablehnungen) gaben neben

der

Stadt,

dem

Landtagspräsidium

und

der

Niedersächsischen

Gedenkstättenstiftung Mittel für die Realisierung dieser hier zu sehenden Wanderversion und für Anschlussforschungen. Seitdem reisen wir durch die Lande, sind mal länger, mal kürzer an den Orten präsent. Dies ist unsere sechste Station, manches roll up wurde unseren fortschreitenden Forschungen gemäß angepasst oder hinzugefügt, diese und jene Tafel hat schon gelitten. Ich hoffe, Sie sehen uns das nach. Wir kamen noch nicht dazu, Reparaturen zu organisieren. Dass diese Wanderung ganz gut funktioniert, liegt neben dem Engagement von Seiten unserer Kooperationspartner vor Ort, mit denen wir manch umfangreiches Begleitprogramm organisieren, auch am Thema und seiner Aufbereitung. Es geht ja nicht nur um ein lokales Ereignis, sondern allgemein um die Formierung der die Republik stürzenden Kräfte von Weimar: Zwar war Bad Harzburg 1931 kein willkürlich gewählter Ort, – es gab für die Initiatoren damals gewichtige politische und logistische Gründe, in die Stadt zu ziehen, so galt etwa das reichsweite Uniformverbot im Freistaat Braunschweig nicht – doch hätte diese Veranstaltung fast überall im Reich ähnliche Resonanz gefunden. Die Stimmung war überall entsprechend. Schauen Sie mal in die örtliche Tageszeitung dieses Oktoberwochenendes 1931. Dies ist nicht nur als ein lapidar hingeworfener Tipp gemeint, sondern soll im Rahmen dieser Ausstellungspräsentation ermuntern, den Weg der Nationalsozialisten an die Macht sowie ihre Machtsicherung und -entfaltung in der materiellen Herstellung und ideologischen Konstruktion von NS-Volksgemeinschaft vor Ort zu erforschen.

Gedenken und Erinnern – historische Prozesse begreifen lernen Über das Funktionieren der NS-Volksgemeinschaft im Lokalen wird gegenwärtig einiges erarbeitet – allerdings beschränkt auf akademische Übungen, die weitgehend außerhalb der betroffenen Öffentlichkeit verbleiben. Die Menschen werden so zu Objekten universitärer Forschung, damit ForscherInnen akademische Meriten erwerben. Geschichtspolitik verlangt das Mitnehmen, das Einbeziehen, die Ermutigung zu eigenem Forschungstreiben. Nur auf diesem Weg kann Bewegung in erstarrte und verkürzte Geschichtsbilder kommen. [Aber das hier nur am Rande] 6

Der Weg der NS-Bewegung zur Macht, ihrer Sicherung und Radikalisierung bleibt jedoch ein oft unterbelichtetes Kapitel deutscher Geschichte. Allgemein wissen wir viel, doch gerade die kommunalen Einheiten, in denen im Zuge der Machteroberung Nachbarn zu Tätern wurden, die ihre Opfer forderten, wo Denunziantentum und narzisstische Herrscherallüren neben Angst und Opportunismus den Alltag beherrschten, Widerstand und Widerspenstigkeit gnadenlos verfolgt wurden, Orte, in denen NS-Helden und Mörder aufwuchsen, Orte in denen etliche nach dem Krieg weiterlebten, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden, reagieren oft zögerlich und verzagt, diese Zeit in den Blick zu nehmen. Die NS-Verbrechen von Tot bringender Verfolgung, Krieg, Völkermord und Holocaust, die aktive oder stillschweigende Teilhabe der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes an diesen Verbrechen, lassen sich schwerlich begreifen, ohne dass die Eroberung der Macht in einer alles Widerständige hinwegfegenden Massenbewegung verstanden wird, ohne dass die ziemlich reibungslose Sicherung von Herrschaft nach 1933 auch im lokalen Raum erörtert wird. Das Wissen um Verbrechen erschüttert, die Kenntnis um die politisch-soziale und ideologisch-kulturelle Organisation der Möglichkeit und Ausführung von Verbrechen kann jedoch Geschichte intellektuell begreifbar machen. Erst wenn wir den gesellschaftlichen Prozess begreifen, in dem ganze normale Deutsche zu Bluttätern wurden, ein Prozesse, der die Opfer des NS-Regimes möglich werden ließ, wird das Gedenken aus den Fesseln säkularer Liturgie befreit und zu einem bewussten Akt des Erinnerns werden können. Der lokale Raum bietet die Möglichkeiten, in konkreter wissenschaftlicher Forschung gegen eindimensionale und von ökonomischer Aufmerksamkeit motivierte rundumschlagende Erklärungen, die en vogue zu sein scheinen, dem Handeln und den Motiven der Volksgenossinnen und Volksgenossen näher zu kommen. Der die Erarbeitung des lokalen Raumes macht bei der Wahrnehmung von Vergangenheit des Nachbarn, Schulmeisters Verwaltungsbeamten gewiss betroffen, diese erwächst aus der intellektuellen Auseinandersetzung. Betroffenheit hindert nicht die Bildung historischer Urteilskraft, sie stützt sie. Wir stecken seit geraumer Zeit in einer öffentlichen Debatte um Sinn und Formen von Gedenk- und Erinnerungspolitik. Solches Ringen um Geschichtsbearbeitung ist nicht neu [wir paraphrasieren Kapitel dieses historischen Prozesses in der Ausstellung], die 7

Schwerpunkte verlagern sich mit den Fortschritten, die die Arbeit in den letzten Dekaden gemacht hat, die mit den Anforderungen an neue Generationen gestellt sind. Gegenwärtig haben wir eine hoch institutionalisierte Gedenkpolitik, dargestellt in den Gedenkstätten oder aber auch in den Gedenktagen – etwa dem 27. Januar oder dem 9. November – und wir haben einige Probleme damit. Verstehen sie mich nicht miss: als jemand der seine politische Sozialisation in Zeiten des Beschweigens und der autoritären Abwehr von Fragen an die NS-Vergangenheit durchlebte, und der seitdem als um historische Urteilskraft Bemühter den Prozess von Geschichtsbearbeitung der letzten 40 Jahre aktiv miterlebt hat, weiß ich die Erfolge zu schätzen, die sich in diesen Orten des Gedenkens ausdrücken. Ich weiß auch zu schätzen, dass etwa Bürgermeister nun nicht nur am Totensonntag die Gräber der gefallenen Deutschen besuchen, sondern auch der Opfer nationalsozialistischen Mordes und Völkermordes entsprechend gedenken. Und dennoch: Wenn das Erinnern im Gedenken zu kurz kommt, wird der aufrichtige und gut gemeinte hohe Anspruch „Aus der Geschichte lernen“ rasch trivialisiert. Zwei standardisierten Formeln illustrieren diesen gedankenleeren Zustand: Selten wird vom Gedenkredner versäumt, zu erwähnen, dass er damals noch nicht geboren war, man sich aber dennoch der Verantwortung stellen müsste. Er sagt denn auch wofür: für das „dunkelste Kapitel“ deutscher Geschichte. Die erste Aussage ist so was von banal, die zweite völlig nichtssagend oder verharmlosend, erinnert mehr an Gewitterwolken als an die blutrünstigste Periode deutscher Geschichte. Um es vielleicht provokant aber meine Erfahrung treffend zu formulieren: Das rituelle Verneigen vor den Opfern fällt bedeutend leichter als die aufklärende Beschäftigung mit der nationalen Gemeinschaft unserer direkten Vorfahren, die solche Verbrechen und Verbrecher hervorgebracht und hat. Ich will ihnen die alltägliche Diskrepanz zwischen Gedenken und Erinnern an einer kleinen Begebenheit illustrieren. Seit etlichen Jahren findet in einer kleinen Stadt im Harzvorland, Vienenburg, jedes Jahr ein Gedenken an den 27. März 1933 statt. Damals

hatten

örtliche

SA-Trupps

Sozialdemokraten,

Kommunisten

und

Gewerkschafter überfallen, gefoltert und in einem Akt grausamer Selbstermächtigung Scheinerschießungen durchgeführt. Heute steht an dieser Richtstätte ein Gedenkstein und man erinnert öffentlich der Opfer. Letztes Jahr wurde ich gebeten, dort zu den 8

Vorfällen einen Vortrag zu halten. Eine Premiere zu dieser seit Jahren üblichen Zeremonie. Meine Recherchen gestalteten sich als ungemein schwierig, denn es schien kaum etwas zu diesem Vorfall überliefert – bis auf die Tatsache, dass es dieses Verbrechen gab. Der Ort beging in diesem Jahr sein 75-stes Stadtjubiläum – rechnen sie kurz nach –, putzte seine Heimatstube heraus, doch über die Zeit des Nationalsozialismus herrscht kollektiv ein Mantel des beredten nichtwissenden Schweigens. Auf mein Nachfragen stellte sich heraus, dass dies „heißes Eisen“ lieber nicht angefasst würde, weil doch jeder jeden kennt, damalige Opfer und Täter sich nach 1945 zusammenraufen mussten und man befürchtete, dass sich über die Bearbeitung von Geschichte Gräben im Gemeinwesen auftun würden. Man bat mich, und zwar von Seiten der persönlichen und politischen Nachfahren der damaligen Opfer, meine Rechercheergebnisse nicht zu veröffentlichen. – Übrigens sitzt seit Jahren ein NPD-Vertreter im Stadtrat. Nun – jeder der sich jemals mit Lokalgeschichte der NS-Zeit beschäftigt hat, wird diese Stimmung schon ebenso vernommen haben, und natürlich ist an solcher Einstellung etwas dran. Ich persönlich kenne solche und ähnliche Haltungen, die sich in

massive

Widerstände,

persönliche

Anfeindungen

und

Boykotte

wider

wissenschaftliche Forschung steigern können, nicht nur von vorgestern, auch von gestern sprich um die Jahrtausendwende und manchmal auch von heute. Doch ich meine, ein Gemeinwesen muss die Auseinandersetzung um seine Geschichte aushalten. Es muss sie im Gegenteil fördern, denn – und das ist ein Kern Sinns von Erinnern – wie soll eine lebendige Demokratie mit qualifizierter Streitkultur funktionieren, wenn sie bedeutende Teile ihres historischen Selbstbildes und Selbstverständnisses tabuisiert? Aus der Geschichte Lernen geht anders. Ich weiß, dass oft ehrliches Bemühen im Lokalen vorhanden ist, doch praktische Verzagtheit, nicht nur aus politischen Opportunitätserwägungen, sondern auch aus mangelnder Kenntnis über den Charakter und Aufwand historiographischer Forschung kann manch gut gemeinte Initiative verschleißen. Qualifizierte Forschung kann nicht als Teil von Verwaltungshandeln oder in feierabendlicher Heimarbeit funktionieren und – sie muss zudem öffentlich erfahrbar sein. Ein gehaltvolles Buch ist wertvoll, doch wie schnell verschwindet es aus dem öffentlichen Bewusstsein in Bücherregale. Dann wird sich um demokratieunwürdige Straßennamen gestritten, um Paul Lettow9

Vorbeck in Hannover oder Agnes Miegel in Goslar – in Celle haben Sie ja zu dem Komplex einiges zu tun. Eigentlich ist solch Streit kleinteilig und einem demokratischen Gemeinwesen unangemessen. Und doch krauchen aus solchen unseligen Debatten die krudesten Vorstellungen von Geschichte und ihren handelnden Personen hervor, wird Stammtischweisheit zur Grundlage von politischem Handeln. Dazu eine kleine aber bezeichnende Begebenheit: In Hannover wurden die Klagen der Anwohner

der

Lettow-Vorbeck-Allee

gegen

die

Umbenennung

Verwaltungsgericht mit der Begründung abgewiesen wurde. Das Gericht

6

vom

entschied,

die im Gutachten von Prof. Helmut Bley angeführten Fakten zur verbrecherischen politischen und militärischen Praxis dieses Kolonial- und Freikorpsoffiziers (er war führendes Mitglied beim Kapp-Putsch-Versuch) würden unabweisbar zeigen, dass solch ein Straßennahme der Satzung der Stadt widerspreche. Darauf hin strengten die Töchter Paul Lettow-Vorbecks einen Zivilprozess gegen den Gutachter an, er würde das Andenken Verstorbener herabwürdigen. In dem Verfahren trat der in quasi staatsanwaltlicher Funktion auftretende Rechtsvertreter der beiden Damen aus Ostholstein als Anwalt Lettow-Vorbecks auf, bezichtigte den Gutachter – der Doyen afrikanischer Geschichte in Deutschland – der mehrfachen Lüge und Unwahrheiten. In seinem Schlussplädoyer stellte der Münchener Anwalt mit einer in öffentlicher Rede kaum mehr anzutreffenden Chuzpe den deutschen Kolonial- und Bürgerkriegskrieger als Edelmann und aufrechten Soldaten dar, dem keinerlei kriegsverbrecherische Tat anzulasten sei. Er bezog sich dabei wesentlich auf die Trauerrede des damaligen Verteidigungsministers Kai Uwe von Hassel (1913 im damaligen Deutsch-Ostafrika geboren) zum Tod Lettow-Vorbecks aus dem Jahr 1964. Das Menschenrechts- und Geschichtsverständnis der bundesdeutschen politischen Klasse der sechziger Jahre wird über solch einen Namensstreit in die Gegenwart transportiert. Es sollte nach dem Willen der Kläger in einem Gerichtsentscheid gegen die historische Wahrheit münden. Tat es nicht. Spätestens in solchen Auseinandersetzungen wird deutlich, dass es noch einen weiteren Grund gibt, sich seiner Geschichte intensiver zu widmen: Zum Rechtspopulismus der Gegenwart Wir beenden unsere Ausstellung mit einer Tafel zum Rechtsextremismus heute. Wer die zeithistorischen Reden, Meldungen und Taten politischer Unkultur in der 10

Ausstellung aufmerksam studiert, wird schnell frappierende Ähnlichkeiten zu Heute feststellen. Was etwa von der Bielefelder Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer7 mit dem Syndrom Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit erfasst wird, finden wir damals alles wie vorgemalt: Politische und soziale Abgrenzung und Ausgrenzung von als anders betrachteten Gruppen des Gemeinwesens, Stärkung einer eigenen, in hohem Maße eingebildeten Gruppenidentität durch verbale oder tätige Angriffe auf andere Gruppen. Wir bilden keine unzulässigen Analogien, doch weisen wir darauf hin, wie zerbrechlich ein Gemeinwesen heute ist, das sozial ausfranst, in dem Siegerposen Gemeinsinn und Solidarität zu ersetzen drohen, in dem Minderheiten wie Langzeitarbeitlose, Obdachlose, Muslime ausgegrenzt werden, in dem in der Eurokrise der Nationalismus zunimmt, verstärkt eine Law-and-Order-Politik verlangt wird und in dem – ja immer noch in einem nicht erträglichen Maße – Antisemitismus eine Erscheinung ist, die in Form des sogenannten sekundären Antisemitismus gesellschaftliche Akzeptanz erfährt. Etwa 20 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass „Juden zu viel Einfluss bei uns haben“, etwas weniger sind äußern sich, dass Juden wegen des Holocaust bei uns bevorzugt werden. Oder – wie oft ist etwa während der Finanzkrisen in als seriös geltenden Medien der Begriff „amerikanisches Ostküstenkapital“ gefallen, ein Begriff, der sofort als „Jüdisches US-Finanzkapital“ decodiert werden muss? Ich bin gespannt, wann in gewissen globalisierungskritischen Kreisen der Begriff „Plutokratie“ wieder hoch kommt. In diesen Ansichten und Begriffen liegt eine Potenz eines breit gefächerten stabilen Rechtspopulismus in der Republik, deren harten Kern etwa 13,6 Prozent der Deutschen ausmachen. Andere Studien wie etwa die der Friedrich-Ebert-Stiftung kommen zu höheren Anteilen. Die Forschungsgruppe um Heitmeyer sieht eine Tendenz des Rückzugs aus der Solidargemeinschaft, vermutet Versuche, Privilegien zu bewahren, beobachtet eine „rohe Bürgerlichkeit, die Entkultivierung des Bürgertums“8, die von sozialdarwinistischen Programmatiken nicht so weit entfernt ist. Bei Thomas Mann hieß diese Erscheinung 1930 Verlust „demokratischer Moralität.“

11

Das Begreifen der Krisengeschichte von Weimar und ihrer Folgen nach 1933 kann ein wichtiger Beitrag zur Bewusstwerdung dieser gefährlichen Tendenzen sein, eine – wie ich finde – zu oft unterschätzte und vernachlässigte Voraussetzung sie einzudämmen. Diese Ausstellung soll ermuntern, die vielerorts wie auch hier in Celle mühevollen, anstrengenden, gehaltvollen aber immer noch oft missachteten oder in ihrer Bedeutung für die demokratische Substanz des Gemeinwesens unterschätzte wissenschaftliche lokale Forschung voranzutreiben. Wenn diese Ausstellung auch dafür einen Motivationsschub und Anschauungsmaterial liefert, erfüllt sie einen wesentlichen Zweck. 1

Thomas Mann, 1930: Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft, gehalten am 17. Oktober 1930 im Beethovensaal zu Berlin in: Th. Mann Werke Bd. 3 Reden und Aufsätze, Frankfurt a. Main 1990, S. 879-890 2 Ebenda S.884 3 Ebenda S.889-890 4 Die Berichterstattung und die Reden dokumentieren wir wie die Resolution und ihre Kommentierung auf unseren websites www.harzburger-front.de und www.spurensuche-harzregion.de und in der Ausstellung. Im Katalog ist ein Aufsatz zu ihr von Prof. Joachim Perels abgedruckt. 5 Vgl. dazu die Präsentation der Geschichtspunkte auf www.kliopes.de 6 VG Hannover 10 A 6277/09 „Umbenennung der Lettow-Vorbeck-Allee in Hannover“, in: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht Rechtssprechungsdatenbank in: http://www.dbovg.niedersachsen.de/Entscheidung.asp?Ind=052002… 7 Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.) 2012: Deutsche Zustände Folge 10, Frankfurt am Main. Vgl dazu auch: Peter Schyga 2012: Zehn Jahre „Deutsche Zustande“, in Komune, Nr. 2/12 30..Jg.; ders.: „Deutsche Zustände“, in der Krise, in Kommune Nr. 2/10 28. Jg. S.18; ders.: Rechtsextremistische Einstellungen in den Regionen. Zu aktuellen Studien über die Entwicklung des Rechtsextremismus, in Kommune Nr. 2/09 27.Jg. S. 63; ders. Auch „deutsche Zustände“ haben eine Geschichte. Über die Zunahme rechtsextremistischer Weltbilder in der „Mitte“, in Kommune, Nr. 1/07 25. Jahrgang, S. 29-31 8 Heitmeyer a.a.O., S.35

12

Hfront Eröffnung Celle.pdf

Sign in. Loading… Whoops! There was a problem loading more pages. Retrying... Whoops! There was a problem previewing this document. Retrying.

67KB Sizes 2 Downloads 39 Views

Recommend Documents

Hfront Vortrag WF.pdf
Page 3 of 17. Hfront Vortrag WF.pdf. Hfront Vortrag WF.pdf. Open. Extract. Open with. Sign In. Main menu. Displaying Hfront Vortrag WF.pdf.

Hfront H English Flyer Mar.2011.pdf
VCP Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder. Volkshochschule Hannover. Page 3 of 3. Hfront H English Flyer Mar.2011.pdf. Hfront H English Flyer ...